„Keine Zeit!“ – kaum ein Satz spiegelt unseren Alltag treffender. Ich höre ihn manchmal von Teilnehmenden in meinen Kursen, besonders dann, wenn ich ihnen Übungsvorschläge für die tägliche Praxis anbiete. Termine, Online-Meetings, Verpflichtungen und der unsichtbare „Mental Load“ lasten schwer auf uns. Selbst das, was einst Erholung war – ein Spaziergang, ein gutes Buch, eine Tasse Tee – wird zum Punkt auf der endlosen To-do-Liste.
Doch wie gelingt es, aus diesem Hamsterrad auszusteigen?
Wir arbeiten heute weniger als frühere Generationen – und doch sind wir erschöpfter denn je.
Stress, Druck, Überforderung.
Die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit? Verwischt.
Die Welt um uns herum? So komplex, so laut, dass wir kaum noch hinterherkommen.
Was uns eigentlich befreien sollte, überrollt uns.
Wir hetzen. Funktionieren. Verlieren uns im Tun.
Und dabei verpassen wir das Wesentliche.
Wir sind abgelenkt, abgestumpft – brauchen immer stärkere Reize, um überhaupt noch etwas zu fühlen.
Und irgendwann fragen wir uns:
Wofür eigentlich? Ist all das wirklich nötig?
Wir verlieren nicht die Zeit. Wir verlieren uns.
Getrieben von Ängsten – nicht gut genug zu sein, etwas zu verpassen – hetzen wir durch das Leben und spüren immer weniger. Entschleunigung und Entpflichtung sind die Zauberworte. Aber sie erfordern Mut: den Mut zur Achtsamkeit. Den Mut, wirklich hinzuschauen, den eigenen Standpunkt zu bestimmen – und das Leben nicht nur abzuarbeiten, zu überleben. Sondern wirklich zu leben.
Ein chinesisches Sprichwort sagt: „Hast du es eilig, laufe langsam.“
Gerade in stressigen Zeiten erscheint dieser Rat paradox, doch er birgt eine tiefe Weisheit. Wer ständig rennt, sieht weder die Landschaft noch sich selbst. In der Raserei des Alltags verlieren wir die Fähigkeit, den Moment zu genießen, zu spüren und überhaupt wahrzunehmen, dass wir am Leben sind.
Laut einer Studie aus dem Jahr 2016 empfinden viele Deutsche das bloße Warten als eine der unangenehmsten Alltagserfahrungen. In einer weiteren Untersuchung entschieden sich Teilnehmende lieber für schmerzhafte Stromstöße, als sich dem reinen Nichtstun hinzugeben. Kaum zu glauben, wie weit wir gekommen sind.
Vielleicht kennst Du diese innere Unruhe, wenn nichts passiert. Das Bedürfnis, sofort zum Handy zu greifen, den Fernseher oder das Radio einzuschalten. Etwas zu tun, dich „sinnvoll“ zu beschäftigen.
Doch wenn Du bewusst innehältst, dich nicht ablenkst, sondern einfach bleibst– mit Dir, Deinem Atem, den Empfindungen in Deinem Körper – öffnet sich etwas. Plötzlich spürst Du, wie viel in Dir los ist, wie laut es manchmal wird, wenn es still wird.
Und gerade das ist heilsam: Nicht weglaufen, nicht optimieren, sondern lauschen.
Genau hier beginnt die Veränderung.
Im Nichtstun. Im Spüren.
In der Entscheidung, präsent zu bleiben – auch wenn es unangenehm ist.
Ohne diese Bewusstheit bleibt vieles im Verborgenen.
Mit Bewusstheit beginnen wir, die Fesseln alter Muster zu erkennen – und Stück für Stück zu lösen.
Viele fürchten die Stille. Doch genau das, was wir meiden, birgt das größte Geschenk: In der Stille erkennen wir unsere wahren Bedürfnisse.
Wir entkommen der Endlosschleife aus Ablenkung und Selbstoptimierung und erkennen, wer wir wirklich sind.
Zeit ist nicht Geld. Zeit ist Leben. Und Leben ist Sein.
Wenn wir bewusst essen, bewusst gehen, bewusst atmen, wird jeder Moment zu einem Schatz. Jede Pause zu einem Ort der Rückkehr zu uns selbst.
Unser Nervensystem, ständig auf Alarmbereitschaft durch Medien, Nachrichtenflut und Leistungsdruck, verwechselt Gedanken mit Realität. Selbst schöne Projekte und eigene Ziele können Stress auslösen, wenn sie zum nächsten „Muss“ werden.
Manchmal bedeutet wahre Stärke, nicht noch schneller zu rennen, sondern stehenzubleiben. Einen Schritt zurückzutreten. Nicht, weil du aufgibst – sondern weil du dich erinnerst. Daran, dass du mehr bist als deine Leistung. Mehr als Tempo, To-do-Listen und Selbstoptimierung.
Wir rennen oft dem sogenannten Fortschritt hinterher – und verlieren dabei das Wertvollste: uns selbst.
Achtsamkeit lädt dich ein, zurückzukehren.
Raus aus dem Tun. Rein ins Sein.
Still. Echt. Wahr.
Was suchen wir wirklich?
Ich lade Dich ein, dich mal ernsthaft zu fragen:
- Wie will ich den Rest meines Lebens verbringen?
- Was gibt mir Sinn?
Viele flüchten in Arbeit, Konsum oder virtuelle Welten, um diesen Fragen zu entkommen. Aber sie holen uns ein – in Form von körperlicher Anspannung, innerer Leere oder unerklärlicher Angst.
Der Gedanke, dass Erlösung irgendwann kommen wird – „wenn ich mehr Zeit habe“, „wenn ich in Rente bin“, „wenn ich genug Geld habe“ – ist eine Illusion.
Das Leben findet nicht später statt. Es findet jetzt statt.
Alles, was lebt, ist vergänglich. Diese Erkenntnis soll uns nicht ängstigen, sondern befreien. Sie ruft uns zu: Verschwende dein Leben nicht im Später, im Höher, im Besser.
Lebe. Jetzt!
Was möchten wir am Ende unseres Lebens über unser Dasein sagen können?
Dass wir stets beschäftigt waren? Oder dass wir gelebt, geliebt, gestaunt haben?
Achtsamkeit ist streng genommen keine Technik oder Methode, die Probleme löst. Sie ist eine Haltung, die uns zeigt: Alles, wonach wir suchen – Frieden, Freude, Verbundenheit – liegt bereits im gegenwärtigen Augenblick verborgen.
Der Moment, in dem du innehältst, ist der Moment, in dem das Leben wirklich stattfindet. Du musst nirgendwohin rennen.
Du musst nichts beweisen.
Alles, was du brauchst, ist hier.
Vielleicht geht es im Leben gar nicht darum, immer mehr zu erreichen oder sich ständig mit der Zukunft oder der Vergangenheit zu beschäftigen.
Vielleicht geht es darum, immer wieder still zu werden und zu spüren:
Ich bin bereits da.
Und das genügt!
“Ob wir es nun Heilung, Suche nach Glück, Sinn oder Zweck oder eine Optimierung menschlicher Erfahrung nennen… Wir alle befinden uns auf einer dauerhaften, lebenslangen Suche… zu VERTRAUEN, dass es tatsächlich sicher sein kann, sich sicher zu fühlen.” (Michael Allison)
In meinen Kursen und im Alltag begegne ich immer mehr Menschen, die von wachsender Unsicherheit sprechen. Irgendwie scheint die Unsicherheit das neue Normal zu sein.
Die Welt ist komplex und kompliziert, und es gibt keine einfachen Lösungen. Überall suchen Experten nach Antworten – gleichzeitig nutzen manche die Verunsicherung für ihre Zwecke, indem sie scheinbar einfache Lösungen anbieten.
Menschsein ist nicht leicht. Wir denken, wir fühlen, wir nehmen die Welt um uns herum wahr. Und genau wie jedes andere Lebewesen wollen wir nicht nur überleben, sondern leben. Ein erfülltes, freies, glückliches Leben. Dafür brauchen wir ein gewisses Maß an Sicherheit – ohne sie können wir weder Freude empfinden noch wachsen.
Wie sicher sind wir wirklich? Unser Nervensystem ist evolutionsbiologisch darauf ausgelegt, Gefahren zu erkennen und uns zu schützen. Ist Gefahr da – dann kämpfst du oder fliehst. Philosophieren über das Leben? Dafür ist keine Zeit.
Die Frage ist: Ist wirklich immer Gefahr?
Oft nicht. Doch unser Nervensystem wird durch die tägliche Flut an Informationen, Nachrichten und gesellschaftlichen Strömungen ständig getriggert. Abhängig von unseren eigenen Erfahrungen und Interpretationen verstärkt dies nicht nur reale Gefahren, sondern schürt zusätzlich Angst und Sorgen. Das Ergebnis? Dauerstress.
Sicherheit ist kein Luxus – sie ist essenziell
Es gibt drei grundlegende Bedürfnisse, die uns als Menschen prägen:
- Sicherheit – das Gefühl, geschützt und stabil zu sein.
- Beziehung – die Verbindung zu anderen und zu sich selbst.
- Autonomie – das Erleben von Selbstbestimmung und eigener Gestaltungskraft.
Diese drei Dinge bilden unser Fundament. Ohne sie läuft nichts. Keine Kreativität, kein Wachstum, kein echtes Leben.
Neben den realen Gefahren füttert unsere Gesellschaft unser inneres Alarm- und Antriebssystem mit Leistungsdruck, Konkurrenzdenken und dem ständigen Gefühl, nicht genug zu sein. Das sorgt dafür, dass unser System immer auf Alarm geschaltet ist. Wir sind in einem Zustand von Widerstand, Trennung, Kampf und Flucht.
Kein Lebewesen kann unter so einem Dauerstress gedeihen.
Dauerhafter Alarmzustand – das Problem unserer Zeit
Ein Gefühl der Unsicherheit aktiviert unser Stresssystem:
- Unser Atem wird flacher.
- Die Muskulatur spannt sich an.
- Unser Denken wird enger.
Wir befinden uns dann im Überlebensmodus, der es uns erschwert, in Beziehung zu uns selbst und anderen zu treten, kreativ zu sein oder uns weiterzuentwickeln.
Kann ein Kind so gut in der Schule lernen?
Kann eine Mitarbeiterin motiviert arbeiten und neue Ideen entwickeln?
Wohl kaum.
Damit wir als Menschen gedeihen können, brauchen wir das Gefühl von Sicherheit und Kontrolle – bis zu einem gewissen Maß. Es geht immer um Balance. Denn Wachstum bedeutet auch, dass wir uns immer wieder in die Unsicherheit begeben.
Das ist die Zone der Herausforderungen.
Die drei Zonen unserer Erfahrung: Sicherheit, Wachstum und Gefahr
- Die Sicherheitszone – Hier entsteht Heilung und persönliche Entfaltung. In diesem Zustand fühlen wir uns sicher und entspannt, können kreativ sein und in den Kontakt mit anderen treten.
- Die Wachstumszone – Wenn wir Herausforderungen begegnen, betreten wir eine Zone außerhalb unserer Komfortzone. Diese Phase ist notwendig für Entwicklung, ähnlich wie Muskeln durch Widerstand wachsen.
- Die Gefahrenzone – Wird der Stress zu groß, geraten wir in einen Zustand der Überforderung. Neurobiologisch betrachtet aktiviert sich der Sympathikus – unser Kampf- oder Fluchtmodus. Wird die Belastung zu hoch und erscheint keine Flucht oder Handlung mehr möglich, folgt der Shutdown-Modus.
Hier treten Lähmung, Erschöpfung und emotionale Starre ein – der Zustand, den wir auch aus Traumareaktionen kennen.
Und genau hier stecken heute viele Menschen und Gesellschaften fest:
Sie kämpfen nicht mehr. Sie fliehen nicht mehr. Sie sind erstarrt.
Kein Schimpfen mehr über „die Politik“, „den Staat“ oder sonstige Sündenböcke.
Keine Ablenkung mehr durch Fernseher, Social Media oder Konsum – sei es durch Shopping, ständige Reize oder Essen.
Nur noch Ohnmacht. Rückzug. Depression.
Ein blödes, sehr unangenehmes Gefühl.
Nun kommt die zweite Frage:
Wie schaffen wir es, inmitten der Unsicherheit ein Gefühl von Stabilität zu bewahren?
Oder, wie es der Begründer von MBSR, Jon Kabat-Zinn, einmal sagte:
“Was braucht es im Außen, damit du dich bei dir zu Hause fühlen kannst? Wie kannst du mit ständigen Veränderungen im Leben umgehen? Dich in der Unsicherheit sicher fühlen?”
Es geht darum, wieder ins Handeln zu kommen – raus aus Angst und Ohnmacht, hin zu innerer Stärke und eigener Gestaltungskraft.
Hier setzt Achtsamkeit an: Sie bringt mehr Bewusstsein in diese automatischen Prozesse, unterbricht alte Muster und schafft neue Möglichkeiten für Selbstregulation.
Wie können wir Unsicherheit regulieren?
Eine einfache, aber wirkungsvolle Übung:
- Wahrnehmen – Beobachte, was gerade da ist: Körperempfindungen, Gefühle, Gedanken.
- Benennen – Formuliere es bewusst: „Da ist Anspannung in meinen Schultern.“ / „Da ist Angst.“
- Regulieren – Frage dich: „Was würde mir jetzt gut tun?“ Vielleicht eine bewusste Atmung, eine sanfte Bewegung oder ein innerer Satz wie: „Ich bin sicher. Es darf sein.“
Durch diese achtsame Haltung kannst du dich selbst regulieren und aus dem Überlebensmodus in einen Zustand von Präsenz und Sein zurückfinden.
Nur dann ist es dir möglich, dein authentisches Selbst wirken zu lassen. Du selbst zu sein. Einfach, echt, ungekünstelt: Einzigartig!
Die ultimative Lösung am Ende: Vertrauen
Manchmal lassen sich die Umstände nicht ändern. Doch eines bleibt uns immer: Unsere innere Haltung – zu uns selbst und zum Leben. Und das Vertrauen – in uns und den Weg, der sich entfaltet.
Vertrauen bedeutet, sich dem Moment anzuvertrauen, ohne alles kontrollieren zu müssen. Es bedeutet, eine tiefere Zuversicht zu entwickeln, dass das Leben sich entfalten wird, auch wenn wir nicht alle Antworten kennen.
Wir können nicht verhindern, dass die Welt unsicher ist. Aber wir können lernen, in dieser Unsicherheit sicher zu sein.
Diese Erfahrung ist nicht nur ein Konzept, sondern auch meine persönliche Erkenntnis aus der Achtsamkeitspraxis: Am Ende wird alles gut.
Dieses Ende ist weder zeitlich noch räumlich. Es gehört zu einer tieferen Dimension unseres Daseins, die unser Verstand nicht erfassen kann. Es ist ein Heimkehren, ein Gehaltensein – das Los- und Fallenlassen in etwas Größeres.
Ein Raum, in dem du sein darfst, genau so, wie du bist – mit all deinen Wünschen, Sorgen, Ängsten und Zweifeln. Eine innere Heimat, in der du geborgen und willkommen bist.