Unsere Identität – das Zusammenspiel von „Ich“ und „Wir“ – beginnt sich schon in den frühesten Phasen unseres Lebens zu formen. Schon im Mutterleib erleben wir eine tiefe Verbundenheit und Sicherheit, die Einheit vermittelt. Doch mit der Geburt und dem Erwachen des Ich-Bewusstseins treten wir aus dieser Einheit heraus, ein Prozess, den einige mit dem symbolischen Austritt aus einem ursprünglichen Paradies vergleichen. So beginnt die Unterscheidung und das Erkennen von „Ich“ und „Wir“.
Eine interessante Geschichte erzählt von einer Frau, die als „Dschungelkind“ in einer Dorfgemeinschaft aufwuchs, in der das Kollektiv, das „Wir“, im Mittelpunkt stand. Individualität spielte keine Rolle. Erst als sie mit 18 Jahren nach Europa kam, musste sie lernen, als eigenständiges Individuum Entscheidungen zu treffen. Diese neue Freiheit brachte nicht nur Freude, sondern auch Stress – einen ständigen Balanceakt zwischen Selbstbestimmung und dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit.
Ein eindrucksvolles Beispiel für das kulturelle Gewicht des „Wir“-Gefühls zeigte sich auf einem Kongress, als der Dalai Lama eine Frage zu Minderwertigkeitsgefühlen gestellt wurde. Er verstand die Frage zunächst nicht und bat um Klärung. Zunächst dachte man, der Übersetzer hätte Schwierigkeiten, das Konzept zu vermitteln. Doch schließlich stellte sich heraus, dass in der Kultur des Dalai Lama, in der das „Wir“ im Vordergrund steht, Minderwertigkeitsgefühle, wie wir sie im Westen kennen, kaum existieren. Das Gemeinschaftsgefühl und die tiefe Verbundenheit der Menschen schützt sie vor dem Gefühl der Isolation und Minderwertigkeit, das oft in individualistisch geprägten Gesellschaften entsteht.
Diese Beispiele zeigen, wie wichtig es ist, sich sowohl als Individuum als auch als Teil einer Gemeinschaft zu fühlen. Wenn wir uns in etwas Größerem eingebettet wissen – sei es durch eine Gemeinschaft, die Natur oder eine spirituelle Kraft – fühlen wir uns sicher und geborgen. Diese Verbundenheit kann uns helfen, existenzielle Ängste loszulassen und uns auf das Wesentliche zu konzentrieren.
In unserer leistungsorientierten Welt fällt es oft schwer, dieses Gleichgewicht zu finden. Bereits im Kindesalter spüren viele den Druck, in der Schule, beim Sport oder anderen Aktivitäten zu glänzen. Intellektuelle Bildung und körperliche Selbstoptimierung stehen im Vordergrund, während die emotionale und seelische Entwicklung häufig vernachlässigt wird. Viele Menschen, die später beruflich erfolgreich sind, kommen in einen Burnout oder sind von Ängsten und Depressionen betroffen, als Folge eines Ungleichgewichts.
Eine zu starke Betonung des „Ich“ führt zu Enge und Trennung – wie das lateinische Wort „Angustia“ (Enge) andeutet. Ein übersteigertes Ego isoliert uns und lässt uns überall Konkurrenz und Bedrohung sehen. Das Ergebnis ist ein andauerndes Gefühl des Mangels und das unersättliche Verlangen nach mehr. Wahre Freiheit entsteht, wenn wir die Enge des Egos durchbrechen und uns als Teil der Einheit des Seins erfahren.
Die wahre Kunst liegt darin, eine gesunde Identität zu entwickeln, die uns sowohl Stabilität und einen gesunden Selbstwert als auch Flexibilität verleiht. Ein starkes „Ich“, das in Beziehung zur Welt steht, schenkt uns Weite und innere Freiheit. Es geht darum, das Gleichgewicht zu finden – zwischen dem Ich und dem Wir, der Individualität und der Verbundenheit. Letztendlich ist es genau diese Verbundenheit, die auf dem Weg der Achtsamkeit und inneren Einkehr zu den wesentlichsten Geschenken zählt. Sie ist die große Entdeckung, die von weisen Menschen vor Jahrtausenden entwickelt und weitergegeben wurde: eine Art Bedienungsanleitung für ein sinnvolles und gelasseneres Leben.
Ein praktischer Impuls für den Alltag:
Wenn du in einem Gespräch, sei es am Arbeitsplatz oder im privaten Umfeld, bist, nimm dir einen Moment, um dich selbst bewusst wahrzunehmen. Achte auf deinen Körper und deinen Atem. Fühle deine Füße auf dem Boden und erde dich. Während du bei dir selbst bist, achte auch auf die Verbindung zu deinem Gegenüber. So bewahrst du das Gleichgewicht zwischen dem „Ich“ und dem „Wir“, ohne dich im Gespräch zu verlieren oder dich von anderen abzugrenzen. Diese Balance ist wichtig, um nicht nur als getrennte Einheit, sondern auch als Teil des Ganzen zu existieren.
Diese wertvolle Übung kannst du jederzeit in deinen Alltag integrieren. Sie fördert das Bewusstsein und die Präsenz in jeder Begegnung.