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Achtsamkeit und unangenehme Gefühle

Entdecke die Vielfalt menschlicher Emotionen. Von Freude bis hin zu Angst und Schmerz - jeder Besucher wird mit Würde empfangen. Selbst die dunkelsten Gedanken und Gefühle sind willkommen, denn sie alle tragen zur persönlichen Entwicklung bei. Tauche ein in die Praxis der Achtsamkeit, um eine tiefere Verbindung zu Dir selbst und zur Welt um Dich herum aufzubauen.

„Das menschliche Dasein ist ein Gasthaus.

Jeden Morgen ein neuer Gast.

Freude, Depression und Niedertracht –

auch ein kurzer Moment von Achtsamkeit

kommt als unverhoffter Besucher.

Begrüße und bewirte sie alle!

Selbst wenn es eine Schar von Sorgen ist,

die gewaltsam Dein Haus

seiner Möbel entledigt,

selbst dann behandle jeden Gast ehrenvoll.

Vielleicht bereitet er dich vor auf ganz neue Freuden.

Dem dunklen Gedanken, der Scham, der Bosheit –

begegne ihnen lachend an der Tür

und lade sie zu Dir ein.

Sei dankbar für jeden, der kommt,

denn alle sind zu Deiner Führung

geschickt worden aus einer anderen Welt.“

(Rumi)

Wut, Trauer, Angst und Schmerz, vieles, was in einem unbewusst schlummert, kommt von Zeit zu Zeit als unverhoffter Besucher an die Oberfläche.

Einiges wurde jahrzehntelang gut verdeckt und dann durch die Stille oder durch ein Ereignis ins Bewusstsein gerückt. Das ist zunächst unangenehm und wird nach Möglichkeit gern wieder unter den Teppich gekehrt. Langfristig wird es aber nichts bringen. Denn der Haufen wird mit der Zeit immer größer und die Kompensationsmuster verlieren ihre Wirkung. Der Versuch, das Unliebsames durch Urlaub, Geld oder Arbeit zur Seite zu schieben, hat seinen Preis. Irgendwann wird der Mensch in die Ecke gedrängt und weiß nicht mehr, wohin er fliehen kann. Körperliche oder geistige Kapitulation sind dann oft die Folge, die den Betroffenen zur Umkehr bewegt. Der Prozess der Erkenntnis kann manchmal schmerzhaft sein, aber das gehört zum Leben und zur persönlichen Reifung. E gibt wenige Sonntagskinder, Menschen, bei denen alles nach Plan läuft und die immer glücklich sind. Ich glaube, dass es kaum einen Menschen gibt, der frei von irgendwelchen negativen oder traumatischen Erfahrungen ist. Letztendlich prägen sie uns und machen uns zu dem, was wir sind: Zu einzigartigen und besonderen Menschen. Alle große Persönlichkeiten, die man in der Weltgeschichte kennt, sind mit Narben übersäht.  So schreibt auch Khalil Gibran: Das Leid brachte die stärksten Seelen hervor. Die aller stärksten Charaktere sind mit Narben übersäht.

In der traditionellen Praxis der Achtsamkeit ist das primäre Ziel die Erleuchtung. Wissenschaftlich auch als transpersonaler Zustand bzw. transpersonale Erfahrung beschrieben. Dies ist der Bereich, in dem ich zu den Eigenarten meines Gefühlslebens in Distanz komme oder besser gesagt mich nicht mehr mit ihnen und den Gedanken identifiziere. Ein Zustand der absoluten Akzeptanz und Gegenwärtigkeit. Hier bin ich ganz und vollkommen. Das ist die Erfahrung der Nicht-Dualität: Gedankenstille, Einssein und Transzendenz. Etwas was durch die Praxis der Achtsamkeit erfahrbar und kultiviert werden kann. Meiner Meinung nach ein wesentlicher Punkt, um aus einer anderen Perspektive mich selbst und die Welt wahrzunehmen. Frei von Beurteilungen und Verzerrungen die aus meinen Konditionierungen und Prägungen entstanden sind. Vielleicht nicht ganz, aber wesentlich anders, als die Sicht, die gefiltert durch meine Gefühle und Gedanken war oder ist.

Neben dem transpersonalen Zustand gibt es aber auch die personalen Erfahrungen. Dazu gehören unsere Gedanken, Körperempfindungen und Gefühle, also die Anteile, von denen Rumi in seinem Zitat dichtet. Und da wir als Menschen ganzheitlich sind, müssen alle Aspekte kultiviert und integriert werden. Allein die Erkenntnis reicht nicht aus, es braucht auch einen bewussten und achtsamen Umgang mit den Gefühlen und Gedanken.

Einer der wichtigsten Erfahrungen, die Übende in Achtsamkeit und Meditation machen ist, dass sie allmählich verstehen, dass sie nicht ihre Gefühle und Gedanken sind und sich somit nicht von ihnen zu unerwünschten Verhaltensweisen führen lassen müssen. Natürlich gehören diese zu ihnen, aber sie sind ihnen nicht ausgeliefert. Wichtig ist hier zu betonen, dass es dabei nicht um ein Verdrängen von Gefühlen und anderen zum Körper und Geist gehörenden Empfindungen und Tätigkeiten geht. Sie haben alle ihre Funktionen und sind nicht schlecht. Sie sind unsere guten Verbündeten und sollten daher eine Einheit bilden. Das eine ist nicht besser als das andere, alle Aspekte gehören zur Ganzheit unseres Daseins.

Rumi schreibt von unverhofften Besuchern und einer Schar von Sorgen, die gewaltsam das Haus seiner Möbel entledigt, und fügt dann dazu, dass selbst dann jeden dieser unverhofften Gäste ehrenvoll behandelt werden sollte. In der Regel sehen wir diese Art von Besuchern eher als Störenfriede bzw. als Feinde, die man eigentlich vertreiben und wegsperren muss. Könnten wir hier vielleicht einen Lösungsansatz finden? Das was wir einladen und zu dem wir eine Beziehung aufbauen, kann uns nicht mehr überraschen. Das, was wir in unserem Haus bewirten kann uns nicht mehr überfallen. So ist das beispielsweise auch mit unseren Ängsten. Stellen wir uns offen und mitfühlend den unliebsamen Gefühlen, können sie ihre Macht verlieren und sich vielleicht zu Freunden verwandeln.

Ein gutes Beispiel dafür ist der Umgang mit kleinen Kindern. Stellen Sie sich ein kleines quengeliges Kind vor, das schreit und tobt, weil es mit etwas unzufrieden ist oder etwas haben will. Vielleicht ist es wütend oder ängstlich. Von Ihrem rationalen Verständnis mag das Benehmen nicht immer nachvollziehbar sein und Sie werden es in einer Situation, in der Sie selbst beschäftigt und gestresst sind, vielleicht ignorieren oder gar zurechtweisen. Das Kind macht aber immer weiter und alle Erklärungsversuche scheitern. Falls Sie kleine Kinder haben oder hatten, kennen Sie das wahrscheinlich. Mir persönlich ist das gut bekannt. Ich kenne die Versuche, als meine eigenen Kinder klein waren und ich sie mit unterschiedlichen Methoden zu beruhigen versuchte. Das meiste war dabei nicht besonders erfolgreich. Allmählich begriff ich, dass der Widerstand bzw. die Versuche dagegenzusteuern noch mehr von dem Unerwünschten bewirkte. Erst das Annehmen und das offene, aufrichtige Zuhören wird in den meisten Fällen Ruhe bringen. Warum ist das so? Weil der Mensch, unabhängig, ob Kind oder Erwachsener, so wie er ist, wahrgenommen und anerkannt werden möchte. Dies ist ein natürliches und wichtiges Bedürfnis eines jeden Menschen. Der Mensch möchte verstanden, und im wahrsten Sinne des Wortes, für wahr genommen werden. So ist das auch mit unseren Gefühlen.

Die Einladung ist, mal öfters in der Achtsamkeitspraxis oder auch informell im Alltag die Aufmerksamkeit bewusst auf die eigenen Gefühle zu richten. Sie einfach nur wahrzunehmen wie sie sind, ohne die Intention zu haben sie zu ändern oder zu verdrängen. Und wie es für eine gute Beziehung üblich ist, sie in dem Moment begrüßen und anzuerkennen. Bei unangenehmen Gefühlen sicherlich nicht etwas, was die meisten tun würden, aber eine wichtige und konstruktive Weise mit ihnen heilsam in Kontakt zu kommen. Dabei sollten wir nicht in das Analysieren oder Werten kommen, sondern die Gefühle in einer offenen und neugierigen Haltung erforschen. So wie ein neugieriges Kind oder eine mitfühlende Mutter. Schon allein diese Art von Haltung gegenüber unseren Gefühlen wird den inneren Druck spürbar lösen.