Eine ehemalige Kursteilnehmerin sendete mir einen interessanten Bericht über die Erfahrungen aus meinem MBSR-8-Wochenkurs.
Sie berichtet dabei sehr authentisch und praxisnah, was sie dort und außerhalb diesen erlebt hatte.
Es freut mich immer wieder zu lesen, wie die Achtsamkeitspraxis und die gemeinsamen Übungen das Leben verändern können. Manchmal im Kleinen, und manchmal im Großen.
Danke für den Bericht, den ich hier sehr gerne teilen möchte.
MBSR oder die Kraft der Achtsamkeit
Einige Schüler fragen ihren Zen-Meister, warum er so zufrieden und glücklich ist:
Der Zen-Meister antwortet:
“Wenn ich stehe, dann stehe ich, wenn ich gehe, dann gehe ich, wenn ich sitze, dann sitze ich, wenn ich esse, dann esse ich, wenn ich liebe, dann liebe ich …”
“Das tun wir auch, antworteten seine Schüler, aber was machst Du darüber hinaus?” fragten Sie erneut.
Der Meister erwiderte:
“Wenn ich stehe, dann stehe ich, wenn ich gehe, dann gehe ich, wenn ich … ”
Wieder sagten seine Schüler:
“Aber das tun wir doch auch Meister!”
Er aber sagte zu seinen Schülern:
“Nein – wenn ihr sitzt, dann steht ihr schon, wenn ihr steht, dann lauft ihr schon, wenn ihr lauft, dann seid ihr schon am Ziel.”
Auch oder besonders in gesunden Phasen hatte ich oft das Gefühl, gar nicht da zu sein, wo ich gerade bin. Ich hetzte durch den Tag, erledigte meine Pflichten, war in Gedanken schon beim der nächsten Aufgabe. Für die Entspannung war der Abend da, wenn das Tagwerk vollbracht ist. Und meistens schlief ich dann erschöpft auf der Couch ein, wieder kein Buch gelesen, keinen Film gesehen, keinen Podcast gehört, nichts aufgeschrieben. Diese Haltung hat sicher auch etwas mit Erziehung zu tun und mit dem, was ich als Kind vorgelebt bekam, aber sie ist auch üblich in unserer westlichen und insbesondere deutschen Welt, in der es darum geht, möglichst viel zu erreichen und viel zu tun.
Achtsamkeit spielt inzwischen in der Behandlung von psychischen Erkrankungen eine große Rolle. Aber was genau ist Achtsamkeit eigentlich? Jeder spricht momentan darüber, gilt es doch, in dieser schnelllebigen, digitalen Welt nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Jon Kabat-Zinn, der „Erfinder“ des MBSR-Programms, beschreibt sie so: „Achtsamkeit ist eine einfache und zugleich hochwirksame Methode, uns wieder in den Fluss des Lebens zu integrieren, uns wieder mit unserer Weisheit und Vitalität in Berührung zu bringen.“
Während meiner Klinikaufenthalte gab es Behandlungseinheiten zur Achtsamkeit, es wurde Yoga und Progressive Muskelentspannung angeboten. Hatte ich alles ausprobiert, und theoretisch war mir die Sache auch klar, nur umsetzen konnte ich sie nicht.
Meine Therapeutin empfahl mir MBSR. MBSR steht für Mindful-Based Stress Reduction und wurde bereits 1979 von Professor Dr. Jon Kabat-Zinn und seinen Mitarbeitern an der Stress Reduction Clinic der Universität von Massachusetts entwickelt. Mein MBSR-Trainer Renato Kruljac beschreibt es auf seiner Homepage so:
„Dieses wissenschaftlich erforschte und einzigartige Programm, welches weltweit unter anderem an zahlreichen Gesundheitszentren und Kliniken erfolgreich angewendet wird, hilft Menschen besser mit Stress, Angst und Krankheiten umzugehen. Studien belegen eine nachhaltige Reduzierung von körperlichen und psychischen Beschwerden, eine effektive Burnout- und Gesundheitsprophylaxe sowie eine Steigerung des Selbstvertrauens und der Lebensfreude. Das Training vermittelt eine wirksame und hilfreiche Methode der Stressbewältigung für Menschen jeden Alters. Das MBSR-Training ist eine Methode zur Selbsthilfe, ersetzt aber keine notwendige medizinische oder psychotherapeutische Behandlung.“
Es gibt zahlreiche Bücher und Dokumentationen über MBSR und Achtsamkeit, besonders sehenswert ist eine arte-Dokumentation, die man in der Mediathek ansehen kann.
Viele deutsche Unternehmen bieten dieses Programm inzwischen als Gesundheitsprophylaxe für ihre Mitarbeiter an.
Nach einem Probetag im Januar 2018 meldete ich mich für den Herbst zu diesem Kurs an, offen gestanden ohne große Erwartungen, es war eher ein „na ja, dann probiere ich das halt auch noch, vermutlich kann ich es ohnehin wieder nicht umsetzen“.
Wir waren eine Gruppe von 14 Teilnehmerinnen und 2 Teilnehmern, die sich zur ersten Kurseinheit trafen, jede Woche 3 Stunden. In der ersten Einheit bekamen wir von unserem Trainer mitgeteilt, dass der eigentliche Kurs zu Hause statt fände, wir sollten pro Tag in dieser Zeit eine bis 1,5 Stunden für das Einüben der Praxis einplanen. Das war für viele überraschend, aber wir ließen uns alle darauf ein. Es hatte ein wenig etwas davon, wie ich mir Weight Watchers vorstelle: in jeder Kurseinheit wurden wir gefragt, welche Erfahrungen wir mit den Übungen gemacht hatten, wie wir sie im Alltag einbauen konnten, was uns hilft und was uns schwer fällt. Anfangs ging es uns denke ich fast allen darum zu zeigen, dass wir uns ehrlich bemühten und befolgten, was uns aufgetragen wurden.
Das änderte sich mit der Zeit. Jeder von uns berichtete, dass die Übungen, die uns anfangs schwer fielen und sich nur mühsam in unseren Alltag integrieren ließen, mit der Zeit zu einem festen Bestandteil des Tagesablaufs wurden. Jeder fand eine andere Möglichkeit, manche – so wie ich – standen morgens früher auf, andere übten in der Mittagspause, wieder andere nach Feierabend. Die Übungen fanden anfangs mit einem Audioprogramm statt. Ein Mantra dieses Programms war der Satz „alles darf sein, wie es ist. Du musst nichts erreichen.“ Das hat sich mir am stärksten eingeprägt.
Ich bin erstaunt, wie sehr mir dieses Training geholfen hat, viel bewusster zu leben, gelassener zu werden, mich Gefühlen nicht ganz hinzugeben, nicht sofort zu reagieren, sondern Dinge auch einmal sacken zu lassen. Und dass ich endlich spüren kann, dass ich, so wie ich bin, mit all meinen Fehlern und Stärken, genau so richtig bin. Ob ich ohne diesen Kurs zu dieser Erkenntnis gekommen wäre? Man kann das MBSR-Training natürlich auch mit Unterstützung von Büchern und CDs zu Hause durchführen. Ich weiß nicht, ob ich die Disziplin aufgebracht hätte, das alleine für mich durchzuziehen. Es ist zeitintensiv und die Erläuterungen und Anregungen durch unseren Trainer und auch der Austausch mit anderen Kursteilnehmern hätte mir gefehlt. So kann ich für mich resümieren, dass der Kurs genau das Richtige war – und auch zum richtigen Zeitpunkt, denn das ist ja auch wichtig. Man muss bereit sein für Veränderung, für das Loslassen von alten Glaubenssätzen. Das kann mitunter ein schmerzhafter Prozess sein und bei mir kam auch viel Trauer darüber hoch, wie schwer ich mir mein Leben bisher gemacht hatte.
Meine Bedürfnisse kann ich viel besser spüren und vergleiche mich nur noch selten mit anderen. Auch nun, knapp zwei Monate nach Abschluss des Kurses, kann ich die Wirkung spüren. Nach einem Besuch bei meiner Therapeutin war sie erstaunt, wie sehr sich mich Wahrnehmung von mir selbst gewandelt hatte, wie selbstverständlich ich mit einem Mal auch meine Stärken und nicht nur meine Schwächen formulieren konnte.
Ich habe gelernt, mir Entspannung nicht erst am Abend zu gestatten, sondern lege mich auch nachmittags mal für eine halbe Stunde hin. Natürlich kann ich meinen Bedürfnissen auch jetzt nicht uneingeschränkt nachgehen, aber es ist schon ein großer Fortschritt, sie überhaupt zu spüren. Wenn ich mich unwohl fühle weiß ich nun ziemlich schnell, warum das so ist: Ärger über einen Vorfall im Büro, Müdigkeit, weil ich nicht gut geschlafen habe, Kopfschmerzen, weil ich erkältet bin, gehetzt sein, weil es mit Arbeit, Familienorganisation und Hobbies gerade mal wieder alles zu viel ist. Das ist eine wichtige Erkenntnis für mich. Früher stellte ich dann mein ganzes Leben in Frage, machte mich innerlich nieder, weil ich nicht alles schaffte, was ich musste. Auch von außen getriebene Stressfaktoren, wie Konflikte im Büro oder Überlastung, kann ich besser los lassen und lasse sie nach Feierabend einfach im Büro. Von negativen Stimmungen um mich herum lasse ich mich kaum noch herunterziehen, ich nehme sie wahr, schaffe es aber auch, mich davon zu distanzieren weil ich weiß, dass sie mir nicht gut tun. Mit Problemen von anderen identifiziere ich mich nicht mehr, ich kann mich besser abgrenzen und dadurch gleichzeitig empathischer sein.
Ich denke, meine größere Gelassenheit wirkt sich auch auf unser Familienleben aus. Auch mein Mann und meine Tochter erlauben sich nun Auszeiten, wenn es gerade nicht mehr geht. Dann bleibt die Bügelwäsche liegen und die Hausaufgaben werden halt auch erst später gemacht. Es geht dann auch viel leichter von der Hand.
Ohne dieses intensive Training, so bin ich überzeugt, wäre ich niemals da hin gekommen. Die Erkenntnis spielt sich nun nicht mehr nur im Kopf, sondern auch auf der emotionalen Ebene ab, eine Ebene, die ich früher nur schwer erreichen konnte. Vielleicht, weil ich schon als Kind gelernt hatte, Gefühle und Bedürfnisse konsequent zu ignorieren und mich den äußeren Gegebenheiten anzupassen.
Ich meditiere nun nicht mehr täglich, ich habe das Gefühl, es nicht unbedingt zu brauchen. Wenn ich das Bedürfnis habe, dann mache ich einen Bodyscan oder ein paar Yoga-Übungen. Die Achtsamkeitsmeditation mit der Konzentration auf den Atem mache ich täglich zwischendurch, wenn ich mich gestresst oder ungeduldig fühle, wenn ich mal wieder ewig an der Kasse warten muss, im Stau stehe oder im Büro tausend Aufgaben auf einmal kommen. Oder wenn ich in unsäglichen Meetings sitze. Das hilft mir sehr, mich wieder mit mir zu verbinden.
Ich bin gespannt, wie sich das Leben mit mehr Achtsamkeit und mehr Gelassenheit weiter entwickelt. Und ob ich dadurch die Depression ein Stück weit aus meinem Leben verbannen kann.
M. S.