Im neuen Jahr fassen viele Menschen den Vorsatz, etwas in ihrem im Leben zu ändern.
Vieles soll besser und schöner werden. Dafür müssen sie was tun, sie müssen sich weiterentwickeln und Fortschritte machen.
Nun, ständig wird von diesen Fortschritten geredet. Vielleicht brauchen wir aber auch mal Rückschritte. Und manchmal im wahrsten Sinne des Wortes, wie mir eine Kursteilnehmerin schrieb:
Hallo Renato,
heute habe ich an Dich gedacht!
An der Tankstelle als ich schon bezahlt hatte und zu meinem Auto marschierte, wurde ich von einem Auto beinahe angefahren.
Ich habe nur gesehen, dass sich ein Auto nähert (bei ca. 1 Meter Abstand) und der Fahrer mich nicht sieht. Ich begriff, dass er mich anfährt, wenn ich so weiterlaufe und meine Richtung nicht ändere. So habe ich einen großen Schritt zurück gemacht.
Ich musste gleich an die Achtsamkeit denken und bin dankbar gewesen, dass es gut endete!
Das war eine gute Erfahrung!
Es kann sich so schnell alles ändern! Wahnsinn.
Als ich nach Hause kam, dachte ich, dass die Menschheit weniger Fortschritte im Moment braucht, sondern ganz viele Rückschritte und Besinnung.
Achtsamkeit kann Leben retten!
Es gibt ein chinesisches Sprichwort, in dem es heißt: „Hast Du es eilig, laufe langsam“.
Gerade in stressigen Zeiten sollte man achtsamer sein. Die Verlangsamung in der Achtsamkeitspraxis sehen manche als etwas Langweiliges und Unproduktives an. Die Verlangsamung dient dazu, dass wir uns bewusster der inneren und äußeren Geschehnisse werden. So wie wir auf der Schnellstraße bei 180 Km/h die Landschaft nicht erkunden und genießen können, ist es uns nicht möglich in der Hetze des Alltags viel bewusst wahrzunehmen.
Für den heutigen zeitlich getakteten Menschen erscheinen viele Achtsamkeitsübungen ziemlich mühselig. So kenne ich Manager, die bei manchen Übungen kurz am Durchdrehen sind. Sie haben einen zwölfstündigen Tag und dann sollten sie sich für etwas Zeit nehmen, wie zum Beispiel für eine Sitzmeditation, in der sie einfach nur sitzen und ihren Atem beobachten. Die Sichtweise, die sich dann schnell in den Vordergrund stellt, ist: Zeit ist Geld. Auch ein kulturelles Problem, wenn wir dies so sehen. Zeit ist nicht Geld, Zeit ist Leben, und Leben ist Sein. Wenn ich meine Zeit bewusst erlebe, das heißt wirklich lebe, unabhängig, ob ich arbeite, eine Pause mache, gehe, spreche oder esse, dann ist sie in jedem Augenblick wertvoll. Sie kann gar nicht als was Verlorenes erlebt werden, denn jeder Augenblick ist immer nur jetzt und kann mich in meinem Sein erfüllen. Die meisten Menschen haben es verlernt, mal nichts zu tun oder in Ruhe zu warten. Laut einer Studie aus 2016 soll für die Deutschen die Wartezeit das größte Alltagsübel sein. In den Onlineportalen wird am Anfang schon die Lesezeit eines Artikels angezeigt. Sind es mehr als fünf Minuten, besteht die Gefahr, dass er nicht gelesen wird. So erwische ich mich selbst beim Schreiben dieses Artikels in Gedanken, ob der Text nicht zu lang sei. Bei meiner Frau hatte ich ja schon mal bei einer meiner Achtsamkeitsbriefe gehört: „Oh, das ist viel, das lese ich später“. Später, heißt soviel wie vielleicht oder gar nicht.
Wir leben in einer schnellen und reiz überfluteten Welt und viele versuchen ihren empfundenen Mangel an Sinn und Glück mit Konsum und Arbeit zu überdecken. Stille und Nichtstun fühlt sich für sie wie eine Depression an. In einer wissenschaftlichen Studie wurde das auch bestätigt. So versetzte sich die Mehrzahl der Probanden selbst lieber schmerzhafte Stromstöße zu als die Zeit mit Nichtstun zu verbringen.
Es gibt Menschen, die einem erzählen, dass man sich immer wieder neue Ziele setzten soll. Dass man sich mit dem, was man hat, nicht zufriedengeben sollte und an sich ständig weiterarbeiten müsste. Stillstand ist Rückschritt in ihren Augen. Das Leben im Hier und Jetzt ist der Feind dieser immer in Zukunft lebenden Menschen. Warum lassen wir uns so leicht in den Stress führen und genießen nicht einfach mal den Augenblick? Müssen wir alles mitmachen? Auch auf dem Weg der Achtsamkeit kann die ständige Suche nach neuen Erfahrungen zum konsumähnlichen Suchtverhalten führen. Manche Teilnehmende kommen zu den Kursen mit besonderen Erwartungen. „Ich bin gespannt, was ich heute wieder lernen werde“ oder „ich möchte neue Techniken und Tools kennenlernen“, ist oft zu hören. In der Praxis geht es eher um ein Verlernen und nicht darum, immer wieder etwas Neues hinzuzufügen und anzusammeln. Es geht mehr um das Sein als um das Tun. Der Weg der Achtsamkeit baut ab, er entrümpelt und entsorgt das Überflüssige in unseren Köpfen. Es geht darum, sich seiner Gewohnheiten und Lebensmuster bewusst zu werden und mehr die Augenblicke, wie groß oder klein sie sein mögen, zu genießen. Unsere Gewohnheiten haben sich mit der Zeit entwickelt und verhärtet. Aus den ehemaligen Mücken wurden Elefanten, die es schwer ist zu vertreiben. Der englische Schriftsteller Samuel Johnson schreibt dazu passend: „Die Fesseln der Gewohnheit sind zu leicht, als dass man sie spürte, bevor sie zu fest sind, um sie noch abzuschütteln.“ Je früher und bewusster wir die Fesseln unserer Gewohnheiten wahrnehmen, umso besser können wir uns von ihnen befreien. Es ist aber nie zu spät, damit anzufangen, und vielleicht kannst Du Dir schon jetzt ein paar Minuten des Nichtstuns gönnen.
Und 3 Minuten reichen dafür auch schon aus!
Mein Vorschlag an Dich wäre, dass Du mal für eine Woche Folgendes versuchst:
1. Wenn Du morgens aufstehst, nimm Dir 1 bis 3 Minuten Zeit und richte Deine Aufmerksamkeit auf den Körper, die Gedanken und Gefühle. Einfach nur wahrnehmen und nichts tun müssen. Frage Dich anschließend:
Wie möchte ich heute mit mir umgehen? Was würde mir guttun? Was brauche ich?
2. In der Mitte des Tages nimmst Du Dir wieder 1 bis 3 Minuten Zeit und richtest Deine Aufmerksamkeit auf den Körper, die Gedanken und Gefühle. Einfach nur wahrnehmen und nichts tun müssen.
Frage Dich anschließend:
Wie möchte ich heute mit mir umgehen? Was würde mir guttun? Was brauche ich?
3. Am Abend vor dem Schlafengehen nimmst Du Dir wieder 1 bis 3 Minuten Zeit und richtest Deine Aufmerksamkeit auf den Körper, die Gedanken und Gefühle. Wahrnehmen und nichts tun müssen.
Dich dann anschließend fragen:
Wie bin ich heute mit mir umgegangen? Was tat mir gut? Was habe ich gebraucht?
Also, eine Übung, die nicht mehr als 9 Minuten am Tag kostet. Somit gibt es keine Ausreden, für diejenigen, die keine Zeit haben. 😉