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Es ist nie zu spät

Matthieu Ricard betont die Bedeutung der gleichzeitigen Entwicklung von Weisheit und Mitgefühl. Eine inspirierende Anekdote aus einer Fernsehsendung verdeutlicht, wie falsche Vorstellungen von Liebe zu Unzufriedenheit führen können. Die Praxis von Achtsamkeit und Mitgefühl, wie im MBCL-Kurs gelehrt, bietet ein Gegenmittel gegen egozentrische Gemütsverfassungen und fördert innere Weisheit sowie ein offenes Herz. In einer leistungsorientierten Gesellschaft können diese Qualitäten als innere Medizin gegen Leid dienen. Ein Aufruf, im Hier und Jetzt mit Achtsamkeit und Mitgefühl zu handeln, erinnert daran, dass es nie zu spät ist, sich selbst und anderen gegenüber freundlich zu sein und unerfüllte Träume zu verfolgen.

„So wie ein Vogel nur mit zwei Flügeln fliegen kann,
so müssen Weisheit und Mitgefühl gleichzeitig entwickelt werden.“  (Matthieu Ricard)

Vor Kurzem bin ich auf eine ausländische Sendung im Fernsehen gestoßen, mit dem Titel „Es ist nie zu spät“. Dort traten ganz gewöhnliche Menschen auf, die eine gewisse Affinität zum Singen haben. Dabei bekamen sie die Chance etwas von ihrer Biografie und den nicht erfüllten Träumen zu sprechen, vor allem in Bezug auf die Musik. Sie hatten die Möglichkeit bekommen, auf die große Bühne zu treten und zu singen.

Ein Mann, der schon 67 Jahre alt und schon im Ruhestand war, kam auf die Bühne und berichtete den fünf Moderatoren, wie er schon recht früh den Wünschen der Eltern folgte und nach seinem Studium eine steile berufliche Karriere machte. Er wurde ein erfolgreicher Geschäftsmann und leitete u. a. als Direktor ein Unternehmen mit rund 600 Mitarbeitenden. Heute war er trotz der vielen Erfolge im Beruf und als Familienvater irgendwie nicht glücklich. Er sprach von etwas, was ihm fehlte. Er meinte, dass er immer sehr viel Liebe anderen gegeben hatte, aber diese nicht in dem Maße zurückbekam. Einer der Moderatoren meinte dann zu ihm, dass er doch viel im Leben erreicht hatte und dass es ihm doch gut ginge. Er sollte das Ganze doch positiv sehen.

Diese Bemerkung veränderte seine Sichtweise nicht. Im Gegenteil, er suchte krampfhaft nach Erklärungen, die aber von keinem so richtig verstanden wurden.

Dann sprach ein anderer Moderator, der durch die Erzählungen sichtlich berührt wurde, den Mann an. Er fragte ihn, warum er denn ständig von Liebe und einem „Nicht-zurückbekommen“ spricht. Denn aus seinem Verständnis heraus, ist Liebe selbst übersteigend, nicht gebunden an eine Forderung. Wenn man wirklich liebt, macht man einfach die Dinge, ohne eine Erwartung zu haben, dass man dadurch etwas zurückbekommt. Und zum Schluss sagte er in klaren, aber freundlichen Worten zu ihm: „Du hast im Laufe des Lebens wahrscheinlich etwas verwechselt. Das ganze Leben warst du in deinem Beruf als Banker und Geschäftsmann tätig und warst von der Einstellung geprägt, wie eine Bank jemandem etwas zu geben und darauf Zinsen und Tilgungen zurückzubekommen. So aber, funktioniert die Liebe nicht.“

Diese Anekdote erinnert mich an die Ich-losen Qualitäten aus dem MBCL-Kurs, den „Vier Lebensfreunden“, im Buddhismus bekannt als die Brahmaviharas, was übersetzt so viel wie die vier grenzenlosen Geisteszustände meint, die als Grundlage für viele Meditationsübungen dienen. Grenzenlos, weil sie unbegrenzt und selbstlos sind und niemanden ausschließen.

Damit sind die emotionalen Qualitäten wie liebevolle Freundlichkeit, Mitgefühl, Mitfreude und Gleichmut gemeint. Sie sind selbst übersteigend, das heißt „Ich-los“ und können nur aus einem freien und offenen Geist heraus wirken. Diese selbst übersteigenden Qualitäten sind das Heilmittel gegen egozentrische Gemütsverfassungen wie Hass, Neid, Eifersucht, Falschheit, Arroganz und Überidentifikation. Gemütszustände, die wir mehr oder weniger alle kennen. Dinge, die uns vergiften und uns schlecht fühlen lassen. Kurz gesagt: Unglücklich machen.

Die Praxis der Achtsamkeit und des Mitgefühls dient letztendlich der Kultivierung unseres Geistes und unseres Herzens. Wir entwickeln damit unsere innere Weisheit und öffnen unser Herz. Damit sind keine starren Konzepte, Regeln und Dogmen gemeint, sondern die aus dem tiefen Bewusstsein entstandene Erkenntnis, dass wir alle in einem Boot sitzen. Dass unser Leid und unsere Freude ein Teil der gemeinsamen Menschlichkeit ist. In unserer leistungs- und wettbewerbsorientierten Gesellschaft sind die beschriebenen Qualitäten leider etwas verloren gegangen und die Symptome auf der kollektiven und individuellen Ebene sind nicht zu übersehen. Depressionen, Burn-out und zahlreiche Zwänge, Neurosen und Krankheiten sind das Resultat dieser Entwicklung.

Wir können aber dagegen etwas tun. Wir haben quasi eine innere Medizin gegen diese Gifte des Geistes. Und das ist eine bewusste, mitfühlende und weise Haltung uns selbst und anderen gegenüber.

Ein hilfreicher Impuls, den ich mir selbst und auch anderen Menschen immer wieder gebe, ist, öfters am Tag mal kurz innezuhalten und sich bewusst zu machen, was im Hier und Jetzt geschieht?

  • Worauf schaue ich?
  • Welche Gedanken und Gefühle habe ich?
  • Welche Körperempfindungen nehme ich wahr?

Vielleicht wäre es freundlich, mal eine Pause zu machen und tief ein- uns auszuatmen?
Dem Ärger einen adäquaten Ausdruck zu geben, oder mal auf seine Bedürfnisse zu achten und dem Gegenüber ein Nein zu sagen, eine Grenze zu ziehen, um Zeit für sich selbst zu haben?

Die Achtsamkeit fragt, was ist gerade jetzt? Das Mitgefühl fragt, was wäre jetzt freundlich, vor allem mir gegenüber? 

Es ist nie zu spät, Dir mit Achtsamkeit und Mitgefühl zu begegnen und vielleicht Deinen noch nicht erfüllten Träumen nachzugehen. Also, fange am besten jetzt an! 😊