Wut ist ein Geschenk. (Mahatma Gandhi)
Harmonie, Liebe und Frieden wünscht sich doch jeder. Hier möchte ich aber etwas über den Gegenpol dieser Gefühle schreiben. Nämlich über die Wut und die eigenen Aggressionen.
Jetzt fallen manchen Bilder von streitenden Menschen, brüllenden Kindern oder gar Krieg und Terror ein. Vielleicht denkst Du dabei an machtbesessene Politiker, an Diktatoren und Kriminelle. Möglicherweise musst Du gar nicht soweit denken und Du siehst Bilder von Dir, die lieber für andere unbekannt bleiben sollten. Hoher Blutdruck, roter Kopf, geballte Fäuste und lautes Schreien. Du kommst Dir vor wie ein Wesen aus der Steinzeit. Die Aggression hat viele Gesichter, ist aber nicht per se schlecht. So wie Liebe als ein Gefühl der Verbundenheit, kann Aggression als das Gegenteil dessen betrachtet werden. Die Aggression wird in unserer Kultur nicht gern gesehen und meist tabuisiert. Doch was sind Aggressionen und wozu sind sie gut?
Tatsache ist, Aggressionen gehören zu unserem Leben und jeder kennt sie. Als eine Art Handlungsemotion sind sie bis zu einem gewissen Maß für das Überleben notwendig. Im Lateinischen bedeutet der Begriff so viel wie: sich zu etwas bewegen, sich nähern. Man unterscheidet hier zwischen den verschiedenen Qualitäten. Zunächst ist es Ärger über etwas, dann die Wut und als Steigerung der Hass. Beim Hass wollen wir das, was wir nicht haben wollen ganz weghaben. Im Extremfall ist es die Vernichtung, der Tod des Anderen. Zum Glück findet diese Art von Aggression bei uns selten statt. Was wir aber im Alltag vermehrt wahrnehmen können, sind eher passive oder versteckte Formen dieser Emotion. Einige davon hast Du bestimmt auch mal erlebt: Die zynischen Bemerkungen eines Arbeitskollegen, sarkastische Witze, Tratsch über andere, Mobbing am Arbeitsplatz, schweigen und ignorieren, Termine vergessen und Abmachungen nicht einhalten. Es gibt Situationen, in der alte Wunden berührt werden und heftige Gefühle aufsteigen. Wenn Du bemerkst, dass Deine Emotionen zu heftig sind, kann das ein Zeichen sein, dass dahinter noch etwas anderes steckt.
Wenn die eigenen Grenzen von anderen nicht beachtet und überschritten werden, werden wir aggressiv. Es ist die Bedrohung des eigenen Selbstwerts, des Ichs. Dahinter steck oft Angst und Verletzlichkeit. Ich erinnere mich an eine junge Katze, die ich mal als Kind von der Straße holte. Sie war schmutzig und ich wollte sie in der Badewanne waschen. Als ich sie in das Wasser legen wollte, fauchte sie mich extrem an und dabei bekam ich eine recht große Angst. Sie wirkte so aggressiv, dass ich mich aus lauter Angst nicht mehr traute sie zu berühren. In großen Stresssituationen kommen bei uns Lebewesen meist zwei Verhaltensweisen zum Vorschein: Kampf oder Flucht.
Viele Menschen haben es nie gelernt, mit Emotionen der Wut angemessen umzugehen. Als Kinder wurden sie bestraft, wenn sie wütend waren. Sie bekamen Liebesentzug und mussten so schnell lernen, ihre Wut zu unterdrücken. Die Verdrängung der Wut führt aber nicht selten zu Bindungsstörungen, Angst und Depressionen. Der dänische Familientherapeut, Jesper Juul, sagte einmal, dass vielen Erwachsenen eine Psychotherapie erspart worden wäre, wenn die Eltern öfters mal mit ihnen gerauft hätten. Das Leben in seiner Ganzheit zu erfahren, bedeutet, die ganze Palette seiner Emotionen bewusst zu erleben. Neben Freude, Angst, Traurigkeit und Scham gehört die Wut zu unseren Grundemotionen und ohne sie wären wir nicht ganz. Die Aggression, richtig verstanden und adäquat ausgedrückt, ist eine lebensnotwendige Energie. Sie schafft Kraft und Klarheit und lasst uns lebendig fühlen. Manchmal kann sie auch das reinigende Gewitter sein. Du solltest sie nicht für eine falsche Liebe eintauschen, in dem Du Dich klein machst und Deine Bedürfnisse und Werte verleugnest. Ohne eine gewisse Portion Wut könnten wir auch nicht für die Gerechtigkeit, den Umweltschutz und unsere Werte eintreten. Dahinter steckt die Liebe für etwas, was uns wichtig ist. Vielleicht denkst Du, dass es besser wäre sich nur den positiven Gefühlen zu widmen und die unangenehmen wie einen Störenfried vom Leibe zu halten. Diese Rechnung wird leider nicht aufgehen. Erst wenn wir den unangenehmen Gefühlen Raum geben und ihnen einen angemessenen Ausdruck verleihen, können wir auch die angenehmen ganz erleben. Wenn Du Wut, Trauer und Angst von Dir verdrängst, wirst Du die nie das Glück erfahren können.
Nicht selten erlebe ich ein falsches Verständnis bezüglich der Wut im Bereich der Achtsamkeit. Ebenso bei Menschen, die sich als religiös oder spirituell bezeichnen. Da kommt bei mir schnell ein komisches Gefühl hoch, dass es irgendwie zu nett ist. Es fühlt sich nicht echt an. Achtsamkeit wird als ein immerwährender Zustand des Nettseins und Glücklichseins verstanden. Die Gefahr, die Gefühle in der Meditation abzuspalten, ist dabei auch nicht gering. Nein, man darf auch mal wütend sein. Der Unterschied ist eher darin zu sehen, wie bewusst bist Du Dir dieser Gefühle?
Die Achtsamkeitspraxis lädt Dich täglich ein, Deine inneren Muster und Bedürfnisse deutlicher zu erkennen. Gefühle haben eine natürliche Tendenz zu fließen und wieder zu vergehen, wenn Du ihre Signale wahrnimmst. Es ist wichtig, dass Du Deine persönlichen Grenzen setzst und auch mal nein sagst. Dieses Nein, ist dann ein Ja für etwas anderes. Indem Du mehr Bewusstsein und Mitgefühl für Dich und andere entwickelst, kannst Du Dich von dem selbstzerstörerischen Gift der Wut befreien. Im Fluss der Achtsamkeit wirst Du Dich selbstbewusster, kompetenter und souveräner erfahren, weil Du von den Gedanken nicht gefangen und von den Gefühlen nicht überwältigt wirst. Dadurch wirst Du nicht etwa distanzierter, sondern empfänglicher, verbundener und anwesender.
Wenn wir die Wut als Kraft und Antrieb zur Veränderung verstehen, kann sie, wie es mal Mahatma Gandhi sagte, ein Geschenk sein.