Vor kurzem hatte ich die Möglichkeit, ein Achtsamkeitsseminar in einer größeren Institution zu leiten. Die Teilnehmer waren achtsamkeitsunerfahren und hatten wenig bis gar keine Erfahrung damit. Deshalb begann ich mit einigen theoretischen Grundlagen sowie wissenschaftlichen Erkenntnissen. Eine dieser Erkenntnisse war, dass Achtsamkeitspraxis die Gedächtnisleistung, Intelligenz, Konzentration und Gelassenheit steigert. Menschen, die unter Angstzuständen und Depressionen leiden, erfahren eine Verringerung der Symptome, während sich Selbstheilungskräfte aktivieren, Wunden schneller heilen und Patienten mit chronischen Erkrankungen und Schmerzen eine Linderung oder sogar eine vollständige Heilung erfahren können. Auch das biologische Altern soll verlangsamt werden. Das alles klingt sehr motivierend und vielversprechend.
Wenn ich an den Anfang meiner eigenen Meditationsreise zurückdenke, erinnere ich mich an eine ganz andere Erfahrung. Die erste Anleitung, die ich erhielt, klang in etwa so: „Setz dich zur Wand und halt die Klappe.“ Direkt und etwas hart. Der radikale Ansatz war zu gewissen Zeiten für mich dennoch effektiv, da er einen starken Kontrast zu meinen Konzepten, Gedanken und vorhandenen Gefühlen darstellte. Meine erste tiefe und besonders außergewöhnliche Erfahrung ereignete sich am dritten Tag eines längeren Rückzugs. Ich war fast bereit, meine Sachen zu packen und nach Hause zu fahren, als ES passierte. Etwas, das mich prägte und wahrscheinlich auch der Grund ist, warum ich heute als Achtsamkeitslehrer tätig bin. Ich hatte eine Erfahrung, die mit Worten nicht zu beschreiben war. Jedes Wort, das ich zur Erklärung verwenden wollte, klang für mich wie jemand, der aus der Tiefe des Ozeans kam und über Seifenblasen in der Badewanne sprach.
Ein Meditationsmeister sagte einmal, dass das, was die Wissenschaft heute im Bereich der Achtsamkeit und Meditation erforscht und bestätigt, schon vor über 2000 Jahren bekannt war. Diese Aussage bringt mich immer wieder zum Schmunzeln. Denn über etwas zu forschen und darüber zu sprechen ist das eine, es wirklich zu kennen und eine Erfahrung damit zu machen, das andere. Es gibt einen Spruch, der besagt: „Um zu wissen, wie der Tee schmeckt, musst du ihn trinken.“ Man kann viel über Tee reden und forschen, die Inhaltsstoffe bis zum kleinsten Molekül kennen, aber ihn niemals gekostet haben. Der Philosoph und Theologe Thomas von Aquin soll nach einer tiefen Erfahrung gesagt haben: „Alles, was ich geschrieben habe, kommt mir wie Stroh vor im Vergleich zu dem, was ich gesehen habe.“
Heutzutage gibt es immens viele Studien, Bücher und Medienberichte über Achtsamkeit und Meditation. So manche Personen haben schon so viel darüber gelesen, dass sie ihren schon so vollen Kopf von Konzepten und Ideen noch mehr füllen und nicht freikriegen können und somit den Fortschritt ihrer Achtsamkeitspraxis erschweren. Hier ist weniger einfach mehr. Und dieses Weniger meint das Reduzieren von äußeren und inneren Reizen. Wie ich es oft in meinen Kursen sage, gleicht die Achtsamkeitspraxis einem emotional-geistigen Fasten. Das körperliche Fasten dient wie eine körpereigene Müllabfuhr und kann von Ballast befreien und leichter und gesünder machen. Ähnlich ist es beim geistigen Schweigen. Im Kopf wird es stiller und klarer. Man löst sich von unliebsamen Gedanken und erkennt Dinge, die man davor nicht gesehen hat. Das stille Sitzen und Schweigen bekommt unserem Ego-Verstand zu Beginn der Achtsamkeitspraxis nicht gut, denn er ist es nicht gewohnt, nichts zu tun. Unsere leistungsorientierte Gesellschaft und das Wirtschaftssystem mit ihrem Weiter-Schneller-Höher fördert diese Qualitäten nicht, was aber die Voraussetzung für tiefere Erkenntnisprozesse ist. Oder, und das ist für jeden in unterschiedlicher Tiefe möglich, für Erleuchtungserfahrungen. Ein Bewusstseinszustand, der über das gewöhnliche Alltagsbewusstsein hinausgeht und nicht über das Denken und unsere Sinnesorgane erfasst werden kann. Ein Aufwachen nach dem Aufwachen – das nach Hause Kommen in die Wirklichkeit!
Achtsamkeit ist eine Art innere Wissenschaft, wie es mal der Neurowissenschaftler Ulrich Ott sagte. Sie nutzt keine Geräte und erforscht nicht im Außen, sondern erforscht mittels Introspektion die inneren Prozesse. Und das ist verdammt interessant und hilfreich. Wir können materielle Dinge erforschen und andere Planeten besuchen. Unsere technischen Errungenschaften sind fantastisch und deren Weiterentwicklung schreitet immer weiter voran. Was ist aber mit uns? Wie viele Menschen erforschen sich selbst? Wie viele Menschen arbeiten an ihrer persönlichen Entwicklung und wollen wirklich was verändern? An sich selbst, an ihrer Beziehung und dem Zustand, in dem sie sich seit Jahren unzufrieden befinden?
- Wir lernen, die Realität zu akzeptieren und nicht darauf zu bestehen, dass sie anders sein sollte. Wir geben uns dem hin, was ist, um Frieden und Gelassenheit zu finden!
- Indem wir uns bewusst werden, dass unsere gewohnten Muster uns schaden können, schaffen wir Raum für Veränderung und Wachstum!
- Wir entdecken unsere Wahlmöglichkeiten und lernen, sie bewusst zu nutzen, um unser Leben nach unseren eigenen Vorstellungen zu gestalten!
- Durch die Praxis der Achtsamkeit lernen wir, uns selbst liebevoll und mitfühlend zu behandeln, auch in schwierigen Situationen!
- Wir lernen, die Welt mit offenem Herzen zu betrachten und das Gute in ihr zu sehen, um ein tieferes Verständnis und eine größere Wertschätzung für das Leben zu entwickeln!
- Wir üben authentischer zu sein und sich nicht zu verkaufen, damit wir die Anerkennung bekommen, die wir uns selbst schenken sollten!
- Indem wir unsere Gefühle ausdrücken und uns ihnen stellen, können wir uns vollständiger und lebendiger fühlen!
- Wir betrachten das Leben als Bühne, auf der wir tanzen und spielen können. Wir lernen, das Leben als Chance zu sehen, um unsere Träume zu verwirklichen und unser volles Potenzial auszuschöpfen!
- Indem wir uns mit der Vergänglichkeit und dem Tod auseinandersetzen, lernen wir, das Leben voller Dankbarkeit und Bedeutung zu leben, anstatt es einfach vorbeiziehen zu lassen!
Die Achtsamkeitspraxis ist eine Reise nach Innen und kann zu interessanten Abenteuern und Erkenntnissen führen, die wir im Außen nie erleben könnten. Und das Schönste daran? Wir können jederzeit damit beginnen. Alles, was es braucht, ist ein Entschluss und eine freundliche Disziplin. Wenn man bedenkt, dass es Studien gibt, die zeigen, dass nur 11 Minuten am Tag ausreichen, um langfristig von der Achtsamkeitspraxis zu profitieren, ist es ein kleiner Aufwand mit großer Wirkung.