„Wenn man Gefühle ins Hirn sperrt,
werden sie ihrer Tiefe beraubt.“ (Ernst Ferstl)
Ich erlebte mal in einem Seminar einen Teilnehmenden, der selbst Buddhismus lehrte und langjährige Erfahrung in der Meditation besaß und dabei eine für ihn besondere tiefe Erfahrung machte. Durch gezielte Übungen kam dieser zum ersten Mal auf eine besondere Weise mit seinen Gefühlen in Kontakt. Im Anschluss an diese Erfahrung erzählte er dann den Anwesenden, wie er selbst jahrelang Vorträge über den edlen achtfachen Pfad, welches ein zentrales Element der buddhistischen Lehre ist, hielt. Also rechte Einsicht, rechtes Denken, rechte Rede, rechtes Handeln, rechter Lebenserwerb, rechtes Streben, rechtes Üben, rechte Achtsamkeit und rechte Sammlung. Alles war ihm klar, was aber fehlte, war das rechte Fühlen. Die ganzen Prinzipien, all die Theorien durchdrang er mit dem Kopf, aber nicht mit dem Herzen. Erst als er die Gefühle zugelassen hatte und sich diesen bewusst hingab, kam er in einen für ihn vertieften Zustand des Erwachens. Etwas von dem er zwar viel wusste, aber bis dato nie lebendig erfahren konnte.
Dass Gefühle wichtig sind und für tiefere Lern- und Transformationsprozesse unabdingbar sind, zeigt uns die Forschung deutlich. Ob in der Psychotherapie, beim Lernen oder auf dem spirituellen Weg, es braucht die ganze Erfahrungsebene, die sowohl den Intellekt als auch den Körper und die Gefühle einbezieht. Durch die Emotionen brennen sich die Erfahrungen, die wir im Laufe des Lebens machen, in unser Gehirn besonders ein. Wir wissen aus der Lernpsychologie, dass Lernen ohne Emotionen nicht die tieferen Schichten des Bewusstseins erreichen kann. Verknüpfungen im Gehirn und tiefere Erkenntnisprozesse brauchen das ganze Spektrum des inneren und äußeren Erlebens. So kennen wir das, wenn wir etwas als trocken und sinnlos erleben, wenn es uns kaltlässt, dann bleibt es meist nicht besonders im Gedächtnis haften. Wenn ich Menschen die Frage stellen würde, wo sie am 11.09.2001 waren, also am Tag des grausamen Terroranschlags in den USA, wüssten das die meisten. Würde ich ihnen die Frage stellen, wo sie einen Tag davor waren, könnten sie sich daran wahrscheinlich nicht erinnern.
Der Begründer der therapeutischen Focusing-Methode, Eugene T. Gendlin sagte einmal: „Nur was gefühlt wird, kann sich verändern.“ Die Distanz zu manchen unangenehmen Gefühlen kann in bestimmten Momenten Sinn ergeben, denn das Unbewusste will uns damit zunächst schützen. Irgendwann kommt aber die Zeit, in der ich mich dem Schmerzhaften hinwenden muss. Sicher ist das nicht angenehm, aber es ist notwendig, um der Wahrheit ins Auge zu schauen, um das, was uns schmerzt, verändern zu können. In der Meditationspraxis gibt es auch die Gefahr, dass man die unangenehmen Gefühle wegmeditieren möchte. Das ist falsch und gefährlich. Vor einiger Zeit sah ich auf dem Cover einer bekannten Zeitschrift ein Bild einer frisch geschminkten und gutaussehenden Frau. Sie saß auf der Spitze des Berges lächelnd und im Hintergrund schien die Sonne. Dabei musste ich schmunzeln und an die unterschiedlichen Erfahrungen denken, die in der Praxis zum Vorschein kommen. Vor Weisheit und Mitgefühl, wird man in der Regel auch Ungeduld, Angst, Trauer und Wut erleben. Eine authentische und regelmäßige Praxis wird alles ans Licht bringen. Somit gehört neben dem Schönen auch das Leidvolle dazu. Das gehört einfach zum Prozess. Falls nicht, läuft in vielen Fällen was falsch. Der Ansatz der Achtsamkeitspraxis ist eher ein Weg des Zulassens. Es geht darum, die Gefühle beurteilungsfrei und ganz da sein zu lassen. In den MBCL-Kursen sage ich deshalb des Öfteren, dass man den Fortschritt der Achtsamkeitspraxis nicht unbedingt darin erkennt, wie viel positive Emotionen wir empfinden, sondern wie viel wir von den schmerzhaften zulassen können. Wenn wir uns authentisch mit unseren Gefühlen verbinden, besteht die große Chance unser Fühlen und Denken nachhaltig zu transformieren.